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Wissenschaftliche Berichte:

H. Daxbeck, C. Lampert, L.S. Morf, R. Obernosterer, H. Rechberger, I. Reiner, P.H. Brunner:
"Der anthropogene Stoffhaushalt der Stadt Wien - N, C und Pb (Projekt PILOT)";
1996; 280 S.



Kurzfassung deutsch:
Nachdem in einer ersten Studie die Bedeutung des Instrumentes "Stoffflussanalyse" für eine nachhaltige urbane Entwicklung gezeigt werden konnte, bestand das Ziel des vorliegenden Forschungsprojektes in der erstmaligen Untersuchung des anthropogenen Metabolismus der Stadt Wien anhand der drei Stoffe Kohlenstoff, Stickstoff und Blei. Da parallel dazu mit derselben Methodik durch das Institut für Pflanzenphysiologie der Universität Wien der natürliche Stoffwechsel von Kohlenstoff, Stickstoff und Blei in Wien untersucht wurde, besteht jetzt eine wertvolle Basis um in Zukunft 1. die Wechselwirkungen menschlicher Aktivitäten mit der natürlichen Umwelt zu vergleichen sowie um 2. die Stadt Wien bezüglich der drei untersuchten Stoffe in Richtung Nachhaltigkeit zu gestalten.

Im Vordergrund des Projektes standen methodische Fragestellungen: Ist es überhaupt möglich, für die ausgewählten Elemente Stoffbilanzen für die Stadt Wien zu erstellen? Wie kann man den Aufwand zur Bestimmung der unzähligen Stoffflüsse und -lager minimieren? Welche Daten müssen gemessen werden, welche können hergeleitet respektive bilanziert werden? Die wichtigsten Fragen aus inhaltlicher Sicht waren: Welches sind die dominierenden Flüsse und Lager für Kohlenstoff, Stickstoff und Blei in Wien? Welches sind effiziente Maßnahmen, um den Stoffhaushalt der Stadt Wien bezüglich langfristiger Umweltverträglichkeit und optimaler Rohstoffnutzung zu steuern? Welche praktische Bedeutung haben die Untersuchungen für die Stadt Wien?.

Das Vorgehen zur Beantwortung dieser Fragen bestand darin, anhand von verfügbaren Daten der statistischen Ämter von Bund, Land und Stadt, anhand von Literatur und von früheren Arbeiten des Institutes für Wassergüte und Abfallwirtschaft den Stoffwechsel der Stadt Wien zu analysieren und quantitativ zu beschreiben. Im ersten Schritt wurde dazu eine Güteranalyse durchgeführt. Im zweiten Schritt wurden die Konzentrationen an Kohlenstoff, Stickstoff und Blei in diesen Gütern gesucht. Anschließend wurden die Stoffflüsse und -lager berechnet respektive abgeschätzt.

Folgende Resultate wurden erhalten: Es ist prinzipiell möglich, den Stoffhaushalt einzelner Stoffe einer Stadt zu analysieren und zu bestimmen. Für diejenigen Elemente, für die, beispielsweise aus Gründen der Energieversorgung, bereits viele Daten vorhanden sind, ist eine Stoffbilanz relativ einfach zu erstellen (Kohlenstoff). Schwierigkeiten ergeben sich für diese Stoffe höchstens für die Zuordnung zu definierten Prozessen innerhalb oder außerhalb der Systemgrenzen (z.B. Pendler, Touristen etc.). Für Stoffe, die bisher nur punktuell betrachtet wurden (z.B. Blei als Treibstoffzusatz), ist eine genaue Bilanzierung deshalb noch nicht möglich, weil bisher eine systematische Auseinandersetzung mit der Methodik der Erfassung aller wichtigen Flüsse und Lager noch nicht stattgefunden hat. Trotzdem können auch für solche, erst mangelhaft erfassbare Stoffe bereits wichtige Aussagen getroffen werden.

Aus inhaltlicher Sicht überrascht zuerst der große jährliche Stoffimport in die Stadt Wien von 300 Mio. Tonnen, entsprechend rund 200 Tonnen pro Einwohner. Rund die Hälfte dieser Menge fließt durch die privaten Haushaltungen, der Rest durch Industrie, Gewerbe und Dienstleistung inkl. Infrastruktur. Ungefähr 75 % des Güterflusses besteht aus Wasser, 18 % aus Luft und "nur" 2-5 % aus Baumaterialien und 1 % aus den restlichen Produktions- und Konsumgütern. Der Stoffinput ist größer als der Output, die Stadt Wien wächst somit. Der Output besteht als Spiegel des Inputs wiederum vorwiegend aus (Ab-)Wasser und (Ab-)Luft. Die große Bedeutung der Maßnahmen zur Versorgung und Entsorgung des Wassers und der Abwässer wie auch der Abluft für die Lebensqualität und die Qualität der Umwelt in Wien wird aus diesen Zahlen ersichtlich.

Das vom Menschen geschaffene Lager in Haushaltungen, Infrastruktur, Industrie, Gewerbe und Dienstleistung der Stadt Wien beträgt knapp über 500 Mio. Tonnen, entsprechend einer pro Kopf Menge von 350 Tonnen. Dieses Lager wächst jährlich 1 - 3 %. Rund 10 % des "Lagers" befinden sich in Deponien der Stadt Wien, die um 1 % pro Jahr wach-sen. Absolut gesehen ist der Input in die Deponien eine Größenordnung kleiner als derjenige in die restliche Stadt; das größte, sich immer noch im raschen Aufbau befindliche Rohstofflager befindet sich in der Stadt selbst und nicht in seinen Deponien. Will man dieses Lager in Zukunft entsorgen, ergibt sich gegenüber heute ein um ein Vielfaches größerer Deponiebedarf; deshalb und aus Gründen der besseren Rohstoffnutzung sollte das Lager "Stadt" zukünftig stofflich genutzt und wiederverwertet werden.

Für die einzelnen Stoffe ergeben sich folgende Erkenntnisse:

Wien ist sowohl für Kohlenstoff als auch für Stickstoff in erster Linie ein Durchflussreaktor. Beide Elemente spielen bei der Energieumwandlung eine große Rolle; der Fluss von Kohlenstoff verläuft vorwiegend über Brenn- und Treibstoffe in die Atmosphäre, derjenige von Stickstoff ebenfalls. Ihr Fluss durch Wien kann durch entsprechende energie-, verkehrs- und raumplanerische Maßnahmen stark verändert werden. Stickstoff spielt eine hervorragende Rolle in der menschlichen und tierischen Ernährung. Sein Fluss via Industrie und Gewerbe über die Versorgung in die privaten Haushalte belastet schlussendlich die Donau. Diese Belastung kann durch die Denitrifizierung in der Kläranlage, den haushälterischen Umgang mit Stickstoff in der Versorgung und in der Ernährung, wie auch mit alternativen Sammelsystemen für Urin und/oder Fäkalien stark reduziert werden.

Sowohl für Kohlenstoff als auch für Stickstoff stellen die Gebäude und die Infrastruktur der Stadt Wien ein beträchtliches Lager dar. Dieses Lager an Holz und Kunststoffen wächst etwa 2 % pro Jahr und es wird sich in den nächsten 50 Jahren verdoppeln. Dieses Lager ist einerseits eine zukünftige Energiequelle, die bis zu 10 % des derzeitigen Kohlenstoffanteils der Energieträger ersetzen könnte; andererseits kann es möglicherweise auch stofflich genutzt werden. Es ist notwendig, die stoffliche Zusammensetzung der Güter dieses Lagers besser kennen zu lernen. Ohne genügende Informationen können beispielsweise bei der thermischen Nutzung durch hohe Stickstoffgehalte im Brennstoff Probleme bei der Einhaltung der Emissionsvorschriften für Stickoxide auftreten. Aber auch die beträchtlichen Mengen an Stickstoff in Bauschutt müssen verifiziert und ihre möglichen langfristigen Auswirkungen auf die Deponieumgebung abgeklärt werden.

Die bereits bekannten Forderungen nach Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes zur Erreichung des Toronto Zieles lassen sich anhand der vorliegenden Kohlenstoffbilanzen bestätigen.

Der Stoffhaushalt für Blei in Wien weist viele Lücken auf; in erster Linie ist die Analyse der Lager und der Stoffflüsse zu vervollständigen. Grob lassen sich ein Import von 20.000 Tonnen und ein Lager von 340.000 Blei abschätzen. Im Bilanzjahr 1991 war infolge des verbleiten Treibstoffes der Kfz-Verkehr mit rund 17 Tonnen eine der Hauptquellen von Blei in der Atmosphäre; diese Quelle hat seit 1993 stark abgenommen. Wegen der hohen Toxizität von Blei müssen in Zukunft Bleimport, -gebrauch und -lager bewusst und sorgfältig bewirtschaftet werden. Würde nur 0.008 % des im Lager der Stadt Wien vorhandenen Bleis in die Umwelt emittiert, entspricht dies bereits den gesamten Emissionen des Jahres 1991. Produktions-, Konsum- und Recyclingprozesse müssen demzufolge einen sehr hohen Wirkungs-grad aufweisen, um die Dissipation von Blei zu verhindern. Optimal kann Blei erst bewirtschaftet werden, wenn alle seine wichtigen Flüsse und Lager bekannt sind. Dies würde es erlauben, gezielt Bleilager aufzubauen und zu nutzen. Viele der heutigen punktförmigen Steuerungseingriffe in den Bleihaushalt der Stadt Wien, beispielsweise über die Problemstoffsammlung, sind wenig effizient.

Die Arbeiten im Rahmen dieses Forschungsprojektes haben an den Beispielen der ausgewählten Stoffe gezeigt, dass Stoffflussanalyse und die Stoffbuchhaltung für eine nachhaltige Entwicklung der Stadt Wien sinnvoll und notwendig sind. In Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und Forschung sollten diese Instrumente von der Stadt weiterentwickelt und in der Praxis erprobt und angewendet werden. Dies würde den schrittweisen Übergang zu einer eigentlichen Stoffbewirtschaftung in Wien ermöglichen. Insbesondere für neue große Projekte und verkehrs-, energie- oder raumplanerische Entscheidungen sollte dieses Instrument eingesetzt werden. Die Kosten einer Bilanzierung von Stoffen können zwar zu Beginn hoch sein, lassen sich aber durch eine spätere Fortschreibung stark reduzieren und sind langfristig vernachlässigbar im Vergleich zum Nutzen der besseren Rohstoffbewirtschaftung, der Früherkennung von potentiellen Altlasten und der Prävention von Umweltschäden.

Die Initiative und Unterstützung der WIZK ermöglichte, dass sich in Wien verschiedene Arbeitsgruppen gemeinsam der Stoffhaushaltsthematik annehmen. Eine neue interdisziplinäre Zusammenarbeit entstand, und zahlreiche methodische und inhaltliche Diskussionen auf der Ebene der Forschung und der Anwendung wurden ausgelöst. Das Thema "Steuerung des urbanen Stoffhaushaltes" ist eine Herausforderung, die nur gemeinsam von verschiedenen Fachdisziplinen und im Gespräch mit den Betroffenen, d.h. der Bevölkerung, der Wirtschaft, der Politik, der Stadtverwaltung und den Institutionen der Länder und des Bundes erfolgversprechend angepackt werden kann. Es ist zu hoffen, dass die ersten Ansätze und Resultate genügend Motivation bieten, um den begonnen Weg weiterzugehen, und den Metabolismus der Stadt Wien gemeinsam Richtung Nachhaltigkeit weiter zu entwickeln.


Elektronische Version der Publikation:
http://publik.tuwien.ac.at/files/PubDat_144146.pdf


Erstellt aus der Publikationsdatenbank der Technischen Universität Wien.