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E. Lehner:
"Die Entstehung der Kragwölbung : Aspekte zur Konvergenztheorie";
Institut für Baukunst, Bauaufnahmen und Architekturtheorie, Wien, 1990, ISBN: 3-900955-03-4; 69 pages.



German abstract:
Die Polygenese architektonischer Formen und Konstruktionen ist ein Thema, das immer wieder zu heftigen wissenschaftlichen Kontroversen führt. Den Auffassungen der Diffusionstheorie, basierend auf einer monozentrischen Entstehung architektonischen Ideenguts, dessen Auftreten in verschiedenen Gebieten mit der Verbreitung durch interkulturelle Kontakte erklärt wird, stehen die Annahmen der Konvergenztheorie gegenüber, die von einer polyzentrischen Genese architektonischer Elementarformen ausgeht.
Die Problematik, diese beiden Theorien gegeneinander abzuwägen, ergibt sich aus deren divergenten Methoden der Beweisführung. So baut die Diffusionstheorie auf dem Nachweis des physischen interkulturellen Kontaktes auf, dessen Verifizierung allein jedoch noch nicht die Übertragung von Bauformen auf diesem Weg beweist, sondern durch den weiteren Nachweis einer - wenigstens kontemporären - kulturellen Kontaktnahme und dem Auftreten bestimmter Bauformen gesichert werden muß. Für prähistorische Kulturen erscheint die Bestimmung des Initialzeitpunktes dieser Bauformen, deren Entwicklungsverlauf nur durch Zufallsfunde blitzlichtartig erhellt wird, äußerst problematisch.
Konvergenztheoretische Untersuchungen können nicht auf der Ebene des Beweismangels kultureller Kontakte argumentieren. Die polyzentrische Genese von Bauformen kann hier nur durch den Nachweis fortlaufender Phasen einer Evolution erbracht werden, die selbst autonome Züge aufweist oder auf einen Ausgangspunkt zurückverfolgt werden kann, dessen Prägung eine eigenständige Entstehung akzeptieren läßt. Der zeitlichen Einordnung dieser Evolutionsphasen stellen sich allerdings ähnliche Probleme entgegen wie bei der Diffusionstheorie, wobei die Tatsache, daß einzelne Entwicklungsstufen einander nicht ablösen, sondern überlappen, die Argumentation noch erschwert.
Die Untersuchung der Evolution von Bauformen muß auf den Grundlagen basieren, die schon von Strzygowski als wesentliche Voraussetzungen einer 'vergleichenden Kunstforschung' erkannt wurden. Einerseits darf die Genesis architektonischer Formen nicht in zu eng begrenzten kulturgeographischen Bereichen untersucht werden, sondern muß in globalen Zusammenhang gesetzt werden, und andererseits ist jede monokausale Argumentation, welche die Illusion eines linearen, von äußeren Kräften unbeeinflußten und nur durch sich selbst bestimmten Entwicklungsprozesses zu schaffen versucht, kritisch zu hinterfragen.
Unter diesen Aspekten erscheint es besonders reizvoll, die Genesis eines architektonischen Elements zu untersuchen, das sowohl durch sein weltweites Auftreten als auch durch seine elementare Konstruktion Rückschlüsse auf eine polyzentrische Entstehung erlaubt. Die Kragwölbung, eine Bauform, die in Europa nur geringe Bedeutung außerhalb der "primitiven" Architektur erlangte und von der konventionellen Architekturgeschichtsforschung meist ignoriert oder als belanglose Vorstufe der "echten" Wölbung abgetan wird, erscheint hier besonders geeignet. Vereinzelte, das Kraggewölbe in seinem Wesen als eigenständiges, gestalterisch prägendes architektonisches Element erfassende Untersuchungen beschränkten sich aber bisher meist auf geographisch eingeengte Bereiche - hier vor allem den mediterranen Raum und die europäische Atlantikküste, deren seit Jahrtausenden bestehenden regen interkulturellen Kontakte eine Darstellung allgemein gültiger Entwicklungsprozesse verhindert. Mit einer solchen Einschränkung sind die von diffusionistischer Argumentation geprägten, auf dem Weg der Polarisation orientalischer und okzidentalischer Architekturtraditionen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangenden Untersuchungen von Montelius und Glück, die von sowohl diffusionistischen als auch evolutionistischen Hypothesen ausgehenden Betrachtungen Soeders und auch die Untersuchungen Rohlfs' anzusehen.
Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, im Entstehungsprozeß der Kragwölbung die Ursachen für die Entstehung architektonischer Formen aufzuspüren. Wichtiger als eine quantitative Erfassung aller Bautraditionen, in denen die Kragwölbung auftritt, erschien hier - anhand ausgewählter Beispiele dargestellt - die Erfassung der vielfältigen Wege, auf denen die Genese eines Architekturelements vor sich gehen kann.

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